Dieser Tex wurde im Juni im TAU-Magazin veröffentlicht. Ich musste mit meinen Beiträgen zum Pandemiediskurs auf die NachDenkSeiten, das TAU-Magazin und hier auf meine persönliche Website ausweichen, weil meine Stamm-Qualitätsmedien – mit Ausnahnme der Wiener Zeitung und des Kuriers – nicht bereit waren, meine Perspektive zu veröffentlichen (was sich zum Glück zuletzt wieder einzurenken verspricht). Da das Thema Solidarität auch nach der Pandemie nicht vorbei ist und schon davor existierte, veröffentliche ich meinen Text vom Juni als (auch persönliche) Weihnachtsgeschichte.

* * *

Eine der Überraschungen im Pandemiediskurs war das Auftauchen des Begriffs „Solidarität“, um etwas einzufordern, was viele nicht nur nicht für richtig hielten, sondern was ihnen sogar Grundrechte entzog.

Viele „spürige“ Menschen haben berichtet, dass sie bei der Pandemie von Beginn an ein komisches, unerklärliches Bauchgefühl hatten, in die Richtung, dass hier etwas grundlegend „nicht stimmt“ und „schief läuft“. Manche Unstimmigkeiten erhielten nach und nach ein „Gesicht“ in Form von Argumenten, Zahlen, Vergleichen und Einordnungen. So gab das Gesundheitsministerium Anfang 2022 bekannt, dass in Österreich im ersten Pandemiejahr 2020 keine Person unter 15 Jahren an Covid-19 gestorben war und von den 15- bis 25-Jährigen gezählte zwei. Dafür haben heute einer Studie der Donau-Uni Krems zufolge 50 Prozent aller Jugendlichen mittelgradige depressive Symptome – nicht vom Virus, sondern von den Maßnahmen des Pandemiemanagements. Weltweit leben aktuell laut Unicef aufgrund der Maßnahmen 100 Millionen Kinder mehr in Armut als vor der Pandemie. Kein Dashboard der Welt präsentiert uns dazu täglich die neuesten Inzidenzen: abgerutscht in relative Armut, abgerutscht in extreme Armut, leidet unter Ernährungsmangel, leidet unter schwerem Ernährungsmangel, an vermeidbarer Krankheit gestorben, an Hunger verstorben. Warum nicht? Auch das Covid-19-Dashboard der Johns-Hopkins-Universität präsentiert globale Zahlen. Ist Covid-19 wichtiger als der Hunger in der Welt?

Ein ähnliches Störgefühl kam bei vielen Menschen auf, als sie plötzlich, mit der Verfügbarkeit von Covid-19-Impfungen, zu „Solidarität“ nicht angeregt oder eingeladen wurden, sondern dazu aufgefordert, mit zunehmenden Konsequenzen bei Nichtkooperation, bis hin zum Entzug von Grundrechten. Bei einigen Menschen kam alles durcheinander: Verstand, Werte, Gefühle – „Wer bin ich? Was brauche ich? Bin ich unmoralisch oder „unsolidarisch“? Fühle ich noch richtig? Kann ich meiner Intuition vertrauen, meiner inneren Stimme?“

Solidarität bisher

Solidarität war in meinem bisherigen Wortschatz ein positiv besetzter Begriff, zumal ein demokratischer Grund- und Verfassungswert. Er ist deshalb ebenso die ethische Grundlage meiner langjährigen Forderung nach einer öffentlichen Pensionsversicherung auf Basis des Generationenvertrags wie einer der fünf Kernwerte der Gemeinwohl-Bilanz. Solidarität (lat. „solidus“ = fest) steht für zusammenhalten, sich nicht auseinanderdividieren lassen, auch die Schwächeren mitnehmen und Hilfe leisten. Wenn jemand im Bus angegriffen wird, kann ich mich solidarisieren und zur angegriffenen Person halten. Wenn ein Mann einen Frauenwitz macht, kann ich mich als Mann solidarisieren und, statt mitzulachen, erklären, dass ich es „nicht lustig“ finde, sich auf Kosten anderer zu amüsieren. Wenn der Chef ungerechtfertigterweise einen Kollegen kündigt, weil er einen gerechten Lohn angefragt oder Kritik geäußert hat, kann ich mich solidarisieren und sagen: „Wenn X gehen muss, gehe ich auch, oder wir legen zusammen die Arbeit nieder.“ Die Beistandspflicht in der UNO kann als internationale Solidarität mit angegriffenen Staaten verstanden werden.

Normalität neu

Völlig undenkbar wäre es gewesen, wenn jemand im Namen der Solidarität jemand anderen aufgefordert hätte, etwas zu tun, was er oder sie nicht für richtig hält, oder gar auf die eigenen Grundrechte zu verzichten. Zum Beispiel: „Entweder Du streikst mit, oder Du bist entlassen.“ Genau das ist in der Pandemie plötzlich passiert. „Neunormal“ ist, dass die Regierung von der gesamten Bevölkerung identisches Verhalten einfordert und Abweichungen sanktioniert. Damit wird eine Pandora-Box geöffnet: Morgen folgt die Fahrrad-Pflicht, übermorgen die Vegane-Ernährungspflicht, zusammen mit der Turn- und Tanzpflicht, danach die Tiny-House-Pflicht und am Ende die „Pille“-Pflicht. Aus Solidarität mit kommenden Generationen selbstverständlich.

Verstörend am „neuen Solidaritätsverständnis“ wirkt eine ganze Reihe von Elementen:

1. Dieses Solidaritätsverständnis ist hochselektiv. Eine „einzige Lösung“, ein „einziger Weg“ ist äußerst unwahrscheinlich, um eine Pandemie wirksam zu managen, es bedarf des Zusammenspiels vielfältiger Maßnahmen und Beiträge. Dennoch wird Solidarität auf einen einzigen Vorgang reduziert, der nebenher Pharmakonzernen mit ausgeprägter Kriminalgeschichte Milliardenprofite sichert.

2. Geschützt wird weder vor allen Gefahren – welche staatliche Hauruck-Solidaritätsaktion hat bisher Menschen vor Diabetes, Sepsis, Luftverschmutzung, Verkehrsunfällen oder Grippe (bis zu 6.100 Tote jährlich in Österreich) geschützt? – noch schützt der Staat alle Bevölkerungsgruppen: Wer war mit den Kindern solidarisch und hat ihnen ein freies und unbeschwertes Leben gesichert?

3. Es gilt kein anderes Solidaritätsverständnis mehr. Menschen, die eine alternative Sicht der Dinge haben, wird ohne Diskussion erklärt, sie seien „unsolidarisch“.

4. Wissenschaftliche Argumente, welche die fachliche Basis der Impfpflicht schwächen, wurden (lange Zeit) nicht gehört oder nicht ernst genommen: a) dass Herdenimmunität nicht erreichbar ist, b) dass die Impfung nicht lange wirkt, c) dass die Impfung nicht vor Ansteckung schützt, d) dass die Impfung nicht vor Infektiosität schützt, e) dass die Impfung auch nicht sicher vor schwerer Erkrankung und Tod schützt oder f) dass C19 für unterschiedliche Altersgruppen ein extrem unterschiedliches Risiko bedeutet. Wer versucht, zu differenzieren, wird als „Schwurbler“ abgetan. Die „einzige Lösung“ wird ohne Rücksicht auf Evidenz durchgezogen, ganz nach dem Motto: „There is no alternative!“

5. Wer bei der alternativlosen „Solidaraktion“ nicht mitmacht, wird beschämt – ein österreichischer Grün-Abgeordneter forderte mich nach meiner Genesung öffentlich auf: „Geh bitte impfen!“ Oder es wird direkt diffamiert: „Zögerer und Zauderer“, „Impfverweigerer“, „Impfgegner“ – das letzte Prädikat, ein von der Pharmaindustrie eingeführter Kampfbegriff, erhielt ich in einem „Standard“-Blog aufgrund eines Textes für eine freie Impfentscheidung. Viele andere, die den Mut hatten, zu ihrer eigenen Meinung zu stehen, wurden in Shitstorms begraben.

6. Wer dann noch nicht einlenkt oder einknickt, wird zunehmend ausgegrenzt. Nicht geimpfte Menschen waren in vielen Ländern über Monate von weiten Teilen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen. Die Lindauer Psychologie-Wochen luden mich im April 2022 trotz aktiven Genesenen-Status‘ als Referent aus, weil ich nicht zusätzlich geimpft war. Im eigenen Psychologiestudium habe ich noch gelernt, welches Traumatisierungspotenzial soziale Ausgrenzung hat.

7. Die Umsetzung der Impfpflicht würde Millionen Menschen in Österreich zudem kriminalisieren. Schon die Ankündigung und der Beschluss der Impfpflicht löste bei vielen Menschen Existenzangst und Panikattacken aus.

Zusammenfassend: Was hier im Kleid der Solidarität und mitunter auch des Gemeinwohls antanzte, ist eher eine Form von Herrschaft und Gewalt. Das Waffenarsenal reicht von moralischer Erpressung (Werte) über emotionale Belastung (Gefühle) bis hin zur Beraubung von Grundrechten (Freiheit) und beruflicher Existenz (Bedürfnisse). Dass das vorgebrachte Hauptziel, in dessen Namen die Solidarität autoritär eingefordert wird, nobel ist und gut gemeint, tut all diesen Einwänden keinen Abbruch. Es liegt an der Regierungskunst, die öffentliche Gesundheit mit vielfältigen und effektiven Maßnahmen so zu schützen, dass dabei a) die Grundrechte intakt bleiben, b) niemand kriminalisiert wird, c) niemand diskriminiert wird und d) niemand diffamiert wird. Das ist fraglos eine hohe Kunst, aber echtes Gemeinwohl ist genau diese Kunst.

Gewaltfreie Solidarität

Wie könnte eine alternativ verstandene Solidarität aussehen und wie würde sie sich anfühlen? Eine Möglichkeit ist, dass sich alle Menschen die Frage stellen, wie ihr Beitrag zum bestmöglichen Umgang mit der Pandemie aussehen kann. Wenn jemand sich für die Impfung entscheidet, aus intrinsischer Motivation und als Ergebnis reiflicher Reflexion, ist das gut und anerkennenswert. Ebenso könnten auch andere Beiträge zum Pandemiemanagement anerkannt werden. Wer zum Beispiel gesund lebt, Feinstaubemissionen vermeidet, sich vor dem Besuch von nicht impffähigen Risikopersonen testen lässt, sich für die Aufwertung von Pflegeberufen oder die Verbesserung der Gesundheitsversorgung stark macht (die meisten Covid-19-Todesfälle waren in Senioren- und Pflegeheimen zu beklagen), wird dafür geachtet. „Solidus“ heißt zusammenhalten, sich nicht auseinanderdividieren lassen. Nach bisherigem Begriffsverständnis würde das bedeuten, dass Geimpfte und nicht Geimpfte (sowie Genesene und Gesunde) zusammenhalten, sich nicht auseinanderdividieren lassen: z. B. gemeinsam Geburtstag feiern (wer Angst vor der Krankheit hat, kann sich impfen lassen oder notfalls fernbleiben; wer nicht geimpft werden darf, kann bitten, dass nur Symptomfreie und Getestete kommen), gemeinsam arbeiten (in Österreich haben sich bisher 8.500 Unternehmen gegen eine Impfpflicht ausgesprochen) und gemeinsam Orte meiden, die 2G leben, nach dem Motto: „Wenn sie nicht rein darf, gehe ich auch nicht rein.“

Und wir könnten die freie Meinungsäußerung respektieren und auf Etiketten jeder Art verzichten, also sowohl auf „Corona-Leugner“ und „Impfgegner“ als auch auf „Corona-Jünger“ und „Impfapostel“. Solidarisch zu sein im Sinne gewaltfreier Kommunikation könnte zudem bedeuten, weder Mitmenschen zu diffamieren, die Angst vor C19 haben, noch solche, die Angst vor der Impfung oder vor Lockdowns haben. Jenseits von geimpft und ungeimpft läge – frei nach Rumi – das Land, in dem wir uns treffen. Dort tauschen wir uns offen und wertschätzend über Gesundheit und Solidarität aus, und was dies alles bedeuten kann.

PS am 25. Dezember 2022:

  • Lauf World Food Programme der UNO sind seit 2019 die unglaubliche Zahl von 210 Millionen Menschen *zusätzlich* von akuter Nahrungsmittelunsicherheit (acute food insecurity) betroffen. Das WFP schreibt zu den Ursachen: „The economic consequences of the COVID-19 pandemic are driving hunger to unprecedented levels.“ Wie viel oder besser: wenig Aufmerksamkeit widmen wir dieser menschlichen Katastrophe, die Kinder am härtesten trifft? Wo bleibt die internationale Solidarität hier? (Eine HNWI-Steuer, wie ich, Attac und die GWÖ seit Jahren einfordern, könnte die fehlenden finanziellen Ressourcen bereitstellen, um den Hunger in der Welt spürbar zu lindern.)
  • Wir waren nicht nur mit den Kindern nicht solidarisch und mit den (genesenen) nicht Geimpften, sondern viele ältere Menschen, in deren Namen alle anderen ihrer Freiheiten und teils auch ihre Gesundheit verloren haben, sagten sehr deutlich: „Ich wurde nicht gefragt, ob ich diese Solidarität will/wünsche/brauche.“ Weder die Solidarischen noch die Adressaten der Solidarität wurden gefragt. Die Nicht-Solidarität mit älteren Menschen zeigte sich auch darin, dass Senior*innen gegen ihren Willen isoliert wurden und viele von ihnen völlig vereinsamt und getrennt von ihren Familien und Angehörigen starben.
  • Erste Qualitätsmedien wie die Neue Zürcher Zeitung („Die Schikanierung der Ungeimpften basierte auch auf falschen Informationen – Rückblick auf eine soziale Ächtung“, 11. November 2022) oder der MDR (Corona-Impfung – Ungeimpfte zu Unrecht beschuldigt?„, 2. Dezember 2022) bewerten die Diskussion inzwischen neu, was Hoffnung macht. Vor kurzem wude bekannt, dass die Zulassungsstudien von Pfizer und Moderna die Weitergabe des Virus durch Geimpfte an andere, gar nicht untersucht hatten. Damit gab es zu Beginn der Impfung gar keine Grundlage für das „Fremdschutz“-Argument, das für viele der Hauptgrund für die Impfung – und ihre (freiwillige!) solidarische Entscheidung – war.