Bekanntermaßen hat Schweden einen anderen Weg durch die Pandemie gewählt – dieser erwies sich als deutlich erfolgreicher als die autoritären Lockdowns. Der ehemalige Staatsepidemiologe Anders Tegnell hat seine Sicht auf die Pandemie und seine eigene Rolle nun zu Papier gebracht (Benevento, 2025). Ich gebe wichtige Passagen wieder und ergänze fallweise in Kursiv meine eigenen Gedanken.

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Eine Zeit lang lässt sich ein Virus abwehren, aber nicht auf Dauer eindämmen. (Seite 39)

Ich hielt es nie für vernünftig, die Krankheit gänzlich abblocken zu wollen. Alle Erfahrungen aus früheren Pandemien zeigen, dass dies unmöglich war. (61)

Am Schwedischen Pandemieplan war 16 Jahre lang gearbeitet worden. (39)

Freiwilligkeit

Freiwilligkeit steht im Zentrum des schwedischen Gesundheitssystems. (55) Unsere gesamte Strategie baute darauf, die Bevölkerung dazu zu bringen, unsere Empfehlungen freiwillig zu befolgen. (192-3) Wir beobachteten eine großflächige Befolgung unserer Empfehlungen. (78)

Subsidiarität:

Zur Unterstützung bekamen die Regionen eine Maßnahmenliste an die Hand, aus der sie frei wählen konnten, sobald das Infektionsgeschehen in ihrer Region an Fahrt aufnahm. (181)

Gefährlichkeit

Am Anfang einer Pandemie neigt man eher dazu, die Gefährlichkeit zu überschätzen. (63)

Gemäß den Berechnungen des Imperial College hätte Schweden im Frühjahr täglich 16.000 Intensivbetten benötigt, wenn es keine härteren Restriktionen eingeführt hätte. Tatsächlich lagen nie mehr als 550 Menschen auf den Intensivstationen des Landes. (172) Wer intensiv behandelt werden musste, wurde das in den allermeisten Fällen auch. (226)

Tests

Die Testkapazität in Schweden war begrenzt. (45) Es war von hoher Priorität, nicht viel zu testen, sondern richtig. Qualität statt Quantität war auch vorher schon mein Mantra gewesen. (46)

Ich hatte meine Zweifel, was die Konzentration auf das Testen betraf, aber ich war ziemlich allein mit meiner Skepsis. Außerdem kam der Auftrag von weiter oben. Die Politik hatte nun das Sagen, und diese sah das Testen im großen Stil als Schlüssel in der Pandemiebekämpfung. (48)

International herrschte ein kolossaler Druck, breit zu testen. Bei der WHO schien sich das breite Testen zum Dogma verfestigt zu haben. WHO-Generaldirektor: „Testen, testen, testen“. (49)

Schon früh gab es in vielen Ländern die Absicht, Covid-19 völlig auszurotten. War das wirklich vernünftig? Lag die WHO diesmal richtig? Mein Chef meinte, dass wir keine Wahl hätten. Zu diskutieren gab es hier nicht viel. (49)

CF: Ohne Massentests und die daraus resultierenden „Fälle“ auf Dashboards wäre die Pandemie 2020 in keiner glaubwürdigen Form darstellbar gewesen: weder an der Krankenhausbelegung noch an den Todesfallzahlen noch an der Übersterblichkeit.

Grenzschließungen

Ich war von Anfang an skeptisch gewesen, ob diese Methode überhaupt funktionieren würde. (34)

Ironischerweise weiß man aus früheren Erfahrungen, dass Reiseverbote, wenn überhaupt, äußerst geringe positive Effekte auf die Infektionsverbreitung haben […] Sie werden schnell so gut wie sinnlos – etwas, worauf die WHO die ganze Krise hindurch konsequent hinwies. (235)

Mehrere Länder schienen daran zu glauben, dass sie einer Infektionsausbreitung entgehen könnten. Aus einer langen historischen Erfahrung wissen wir, dass das noch nie möglich gewesen ist. (260)

Lockdown

„Lockdown“ war im Zusammenhang mit Infektionsschutz noch kein etablierter Begriff und war in der Neuzeit noch nie mit Pandemien in Verbindung gebracht worden. (59)

Für uns war klar, dass die Chinesen die Pandemie mit harter Hand in den Griff zu bekommen. Wuhan wurde abgeriegelt. Keiner durfte das Haus verlassen. (36)

Die gesamte Gesellschaft abzuriegeln, war für uns zu keinem Zeitpunkt denkbar. (62)

Vorsorgeprinzip / Prinzip des gelinderen Mittels

Diese Entscheidungen wurden im Namen des Vorsorgeprinzips getroffen. Mir war nicht bekannt, dass das Prinzip jemals im Zusammenhang mit einer Pandemie erörtert worden wäre. (60)

„Eine Maßnahme darf nicht durchgeführt werden, wenn sie der Allgemeinheit oder der Umwelt Schaden zufügen kann und weiterhin kein wissenschaftlicher Konsens zu diesem Thema besteht“, zitiert Tegnell das EU-Gesetz. „Ich verstehe das Prinzip so, dass man so wenig wie möglich und so viel wie nötig tun sollte, um den gewünschten Effekt zu erzielen.“ (59)

Schulschließungen

Wir kamen zu dem Ergebnis, dass Schulschließungen keine eindeutigen seucheneindämmenden Vorteile hatten. (53) Eine vergleichende Studie in Dänemark, Norwegen und Finnland kam zum Schluss, dass Schulschließungen keinen Einfluss auf die Verbreitung der Krankheit gehabt hatten. (222)

Aus früheren Krisen und Schulschließungen wissen wir, dass viele Kinder in armen Ländern nicht wieder in die Schulen zurückkehren, sobald diese wieder offen sind. Mädchen sind davon besonders betroffen. In Uganda gingen 15 Millionen Kinder nicht zur Schule. Die Fälle von häuslicher Gewalt, Kinderarbeit und Kinderehen nahmen zu. Laut UNICEF stieg die Anzahl schwangerer Mädchen im Alter von 10 bis 14 Jahren um 350 Prozent. (241) Manche Mädchen versuchten, sich als Konsequenz einer Schwangerschaft nach einer Vergewaltigung das Leben zu nehmen. (245)

Als die Schulen nach 2 Jahren wieder öffneten, kehrten mehr als 4 Millionen Kinder nicht in den Unterricht zurück, sei es, weil sie verheiratet waren, schwanger – oder einer Arbeit nachgingen, auf deren Einkommen die Familie nicht mehr verzichten wollte. (241)

Meiner Meinung nach trägt der reichere Teil der Welt Mitschuld an den Problemen, die in Ländern wie Uganda, Südafrika und Mosambik durch rigide Covid-Restriktionen entstanden. (243)

Altenheime

In Schweden sind Altenheime mehr Hospiz-Einrichtungen, in denen sich nur 10.000 der 2 Millionen Menschen über 65 leben. Die durchschnittliche Lebensdauer dort beträgt 6 – 8 Monate: Die Menschen sterben statistisch binnen eines Jahres. Das Personal ist nicht medizinisch geschult (ORF-Interview).

Weitere Ursachen der hohen Sterbezahlen: Mangelnde Befolgung von Hygienemaßnahmen, (Nicht-)Vorhandensein von Schutzausrüstung, (unsachliche) Anwendung von Schutzausrüstung, Ausbildungsniveau des Personals, prekäre Anstellungsverhältnisse (z.B. Teilzeit, wodurch sich die Betroffenen ein Zu-Hause-Bleiben nicht leisten konnten). (68)

Masken

„In der gesamten wissenschaftlichen Literatur war kein einziger Beleg zu finden, dass das Tragen von Masken einen nennenswerten positiven Unterschied machen würde.“ (97)

Wie konnte es sein, dass die ganze Welt falsch lag und wir richtig? Ich konnte nicht nachvollziehen, wie so viele Länder sich auf eine Maßnahme stützen konnten, deren Sinnhaftigkeit so zweifelhaft war. (190)

Die negativen Auswirkungen der Masken im allgemeinen Gebrauch sind noch nicht ausreichend untersucht. Wir wussten nicht einmal, ob die Infektionsausbreitung nicht sogar erhöhen können, wenn jemand etwas dieselbe Maske mehrfach nutzte und nicht wechselte. (192)

Cochrane 2023: kein oder nur ein geringer Effekt auf die Infektionsausbreitung durch Masken (194)

Eine weniger wissenschaftliche Beobachtung ergibt, dass viele der Länder, in denen während der Pandemie größtenteils eine umfassende Maskenpflicht galt, wie Spanien oder Italien, dennoch richtig heftig erwischt worden waren. (194)

Virusverbreitung durch Asymptomatische?

Insgesamt zeigte sich, dass die wirklich große Infektionsausbreitung sich dann ereignete, wenn die Leute krank waren. [CF: also von den Symptomatischen; deren Zuhausebleiben ausgereicht hätte] „Sämtliche Infektionen vermeiden zu wollen, hätte so drakonische Maßnahmen bedeutet, wie sie in China umgesetzt worden waren und wurden.“ (100) [CF: Die Asymptomatischen waren eher nicht das Problem, von daher war wiederum das Testen nicht so wichtig.…]

Impfungen:

Schweden führte als eines der ersten Länder 1816 eine verpflichtende Pockenimpfung ein. (150)

Während viele andere Länder Probleme hatten, die Menschen dazu zu bringen, sich impfen zu lassen, rannten die Schweden den Impfzentralen die Türen ein. (157)

Zwischen Oktober 2009 und April 2010 ließen sich rund 60 Prozent der schwedischen Bevölkerung mit Pandemrix (gegen die Schweinegrippe) impfen. Bis 2020 wurden 394 Fälle von Narkolepsie der schwedischen Arzneimittelbehörde gemeldet, darunter viele Kinder. Vier Jahre nach der Untersuchung durch die EMA wurde dem Impfstoff die Zulassung komplett entzogen. (157-8)

Kollateralschäden

Im Frühjahr 2023 erfuhr ich von einem Bericht mit vorläufigen Resultaten einer Studie, die auf ungewöhnlich viele Todesfälle bei mehreren anderen Krankheiten als Covid-19 in den letzten Jahren hinwies. (223)

Hingegen gehen aus den Erhebungen der letzten Jahre keine radikalen negativen Veränderungen der mentalen Gesundheit der Schwedinnen und Schweden hervor. (223)

Internationale Solidarität

Man könne zynisch kommentieren, dass es internationale Solidarität erst dann gibt, wenn die reichen Länder ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. (237)

Pandemieende

Schweden schaffte wie im Grunde ganz Europa alle Covid-Restriktionen im Lauf der ersten Jahreshälfte 2022 ab. (233) [CF: Österreich: Juni 2023.]

Das Risiko, dass eine neue Pandemie beginnt, ist jeden Tag gleich groß. (264)

Viren verfolgen nicht das Ziel, Menschen zu töten, denn damit würde auch der Wirt des Virus sterben, und es könnte sich schlechter weiterverbreiten. (263)

Ich frage mich, ob irgendeine Krankheit jemals so viel Aufmerksamkeit erfahren hat wie C19. (98)

Aufarbeitung

Wichtig ist, dass der Umgang mit der Pandemie analysiert wird und dass wir etwas daraus lernen. (253) Jetzt muss der Westen lernen, dass es Krisen gibt, die wir nicht aufhalten können, und dass wir verwundbarer sind, als wir glauben. (268)

Eine Möglichkeit ist es, Vorräte anzulegen, und zwar auf allen Ebenen der Gesellschaft. (268)

Wissenschaftspolitik

In der akademischen Welt ist es weniger üblich, finanzielle Mittel für fachübergreifende Projekte zu erhalten als für Forschungsprojekte in ein und demselben Fachbereich. (249)

Persönliches

Im zweiten Pandemie-Sommer kam ein walisischer Milchbauer in einem Wohnmobil vorbei. Er war zutiefst aufgebracht über die Restriktionen in Großbritannien und beschloss, in Schweden Urlaub zu machen. Wo er schon einmal hier war, nutzte er die Gelegenheit, mir ein Geschenk zu überreichen: eine Kiste Schaumwein aus Wales. (282)

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