Karl Lauterbach hat nach und nach zugegeben, dass wiederholte und fortgesetzte Kita- und Schulschließungen doch ein Fehler waren (ZDF, 30. 1. 2023). Ich habe diese Vermutung am 14. April 2020 geäußert, in meinem Corona-Vlog 3. Warum wagte ich damals – als Nichtmediziner – eine solche Aussage, fragten mich manche Freund*innen? Weil ich mir ein breites Spektrum von virologischen, epidemiologischen, infektiologischen und allgemeinmedizinischen Meinungen vergleichend zu Gemüte geführt hatte und die Plausibilität für das rasche Wiederöffnen von Kindergärten und Schulen mir höher erschien als die des fortgesetzten Geschlossenhaltens oder wiederholten Schließens. Als ganzheitlich Denkender und Forschender bezog ich unterschiedlichste Aspekte in mein Gesamtbild ein: Neben dem extrem unterschiedlichen Gesundheitsrisiko je nach Altersgruppe auch das Grundbedürfnis nach Sozialität, Lebendigkeit, Spiel, Berührung, die Belastung von Alleinerziehenden und Familien, soziale Stratifizierung und Ungleichheit, der Umgang mit Risiken und Angst, Bewegung, frische Luft, das Verhältnis zum Immunsystem, das Grundrecht auf Bildung und andere. Ich versetze mich in die Rolle der Regierungen. Die Expert*innen-Meinungen waren so uneinheitlich und so widersprüchlich, dass es ein leichtes war, sich für jede politische Strategie die passenden Fachleute zu holen und zur Legitimierung der gewählten Vorgangsweise zu „präsentieren“. Um meine anderslautende Einschätzung weder an einer Einzelmeinung aufzuhängen noch an gänzlich unbekannten Fachleuten, zählte ich am 14. April 2020 exemplarisch acht einschlägige Expert*innen auf, die sich für das Öffnen von Schulen und Kitas aussprachen: Knut Wittkowski (Rockefeller Universität), Ansgar Lohse (Infektiologe am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) sowie die damals sechsköpfige „Schrappe-Gruppe“ rund um Prof. Matthias Schrappe, in der auch zwei ehemalige Mitglieder des Sachverständigenrates Gesundheit mitwirk(t)en. Das waren keine Einzelmeinungen, und in der Wissenschaft ist es nicht selten, dass neue Erkenntnisse durch Einzelpersonen in die Welt kommen oder zunächst nur von einer Minderheit vertreten werden. Man hätte diese Expert*innen hören und auf sie hören können. Ich empfahl das. Karl Lauterbach und die österreichischen Gesundheitsminister taten das Gegenteil, sie setzten auf Schulschließungen, und sie erzeugten großen Schaden an der Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Familien, die bis heute andauern: Angststörungen, Depressivität, Übergewicht, Suchtneigung, Suizidalität. Letztere hat sich verdoppelt (Der Standard, 26. Juli 2022); depressive Symptome sind bei Jugendlichen von fünf Prozent vor der Pandemie auf 50 Prozent gestiegen (Die Furche, 8. November 2022) (ORF, 1. September 2022). Dies wurde sehenden Auges in Kauf genommen, obwohl rasch klar war, dass Kinder und Jugendliche nicht zu den Risikogruppen zählten. Heute sieht das auch Karl Lauterbach so, und es wird langsam zum Common Sense.

Wenn auch noch nicht zum Konsens. Die Rechtfertigung des österreichischen „Wissenschaftlers des Jahres 2021“ Peter Klimek, warum er prominent für Schulschließungen eintrat, ist eines der traurigsten Zeugnisse des Pandemiediskurses: „Die Frage ist dann halt auch einfach politisch, was sieht man da jetzt als bessere Lösung im Gesamtbild ab. Und da darf jetzt man natürlich auch nicht außer Acht lassen, dass dann die Schulen vielleicht auch in manchen Sitzungen schlechtere Verhandlungsposition vertreten gehabt haben.“ (Servus TV, 1. Februar 2023). Im Juli 2020 vertrat Peter Klimek die Ansicht: „Die bei weitem wirksamste Maßnahme ist unserer Studie zufolge die Schließung von Bildungseinrichtungen.“ (MedUni Wien, 14. Juli 2020) Klimek und der bis dahin unbekannte Niki Popper wurden zu den meistbefragten Pandemieexperten in Österreich. Dass plötzlich „Modellierer“ wie Popper oder Klimek zu den Pandemieerklärern der Nation wurden, waren Entscheidungen von Politiker*innen und Medien, die diese Protagonisten einseitig oft um Rat fragten und zum Interview baten. Die Ernennung von Peter Klimek zum Wissenschaftler des Jahres 2021 – eine Auszeichnung für „Forscher, die sich besonders um die leicht verständliche Vermittlung ihrer Arbeit verdient gemacht und (…) das Image der österreichischen Forschung in der breiten Öffentlichkeit gehoben haben“ – ist sowohl ob der fatalen fachlichen Fehleinschätzung von Schulschließungen als auch der Formulierung des obigen Zitats bemerkenswert. Auch die Metapher von der Omikron-„Wand“ von Peter Klimek (ORF, 21. Dezember 2021) mag zwar dem Kriterium „leicht verständlich“ entsprechen, jedoch nicht der inhaltlichen Treffsicherheit – denn auch wenn durch Omikron die Infektionszahlen steil nach oben gingen, ist das Sprachbild „Wand“ statt „Welle“ für die öffentliche Kommunikation ungeeignet, weil es unnötig Angst macht. Viele wussten schon damals: Omikron ist der Beginn der Entspannung im Pandemieverlauf. Entspannung wird aber nicht mit einer „Wand“ eingeleitet, die alle bisherigen Wellen in den Schatten stellt.

Ich habe im April 2020 meinem Spürsinn und meiner Verantwortung für das Gemeinwohl vertraut und bin mit starkem Unbehagen, wie meine Botschaft gegen die offizielle Regierungslinie ankommen würde, an die Öffentlichkeit gegangen. Dass mir das geschadet hat, weil viele nicht hören wollten, was heute Common Sense ist, damit kann ich leben. Tragisch ist, dass es mir – gemeinsam mit vielen anderen – nicht gelang, in Österreich und Deutschland das rasche und dauerhafte Öffnen von Kitas und Schulen zu bewirken und damit das Gemeinwohl zu schützen. Die Tatsache, dass es in anderen Ländern wie der Schweiz und Schweden gelang, beweist, dass es unnötig war, auf Negativszenarienmodellierer, Angstmacher und Schließmeister – „Lockdown“ kommt, wie wir heute wissen, nicht aus der Epidemiologie, sondern aus dem Gefängnismanagement (Euzebiusz Jamrozik, Monash Bioethics Review, 22. September 2022) – zu hören und die Gesundheitspolitik an ihren statt an weniger grundrechtseinschränkenden und gesundheitsschädlichen Empfehlungen auszurichten. Sowohl die Schweiz als auch Schweden, ein Land mit viel kürzeren und eines ganz ohne Schulschließungen (Martin Sprenger, Public Health-Experte, 9. Dezember 2022) – stehen heute in Bezug auf die Pandemiebewältigung – von Todesfallzahlen bis zur Tiefe der Spaltung der Gesellschaft – deutlich besser da als Österreich (Our World in Data, „Cumulative confirmed Covid-19 deaths per million people“, 28. Februar 2023). Solche Ländervergleiche widerlegen das oft gebrachte „Präventionsparadox“: das Argument, dass es ohne Schulschließungen noch viel schlimmer gekommen wäre. Sie sind eine wichtige Lehre für kommende Krisen, die manche schon regelrecht heraufbeschwören (Johns Hopkins University, 10. November 2022) und ein Szenario mit „15 Millionen toten Kindern“ einüben (WHO-Direktor) (Keynote address, auch kein Mediziner) (Keynote Ursula von der Leyen). Gerade weil hier die Kinder in den Fokus genommen werden, sollte die Wirkung der Maßnahmen auf Jugendliche und Kinder Kernbestandteil einer umfassenden Aufarbeitung des Pandemiemanagements werden, die nun anzugehen ist; einerseits, um auf natürliche Pandemien das nächste Mal besser vorbereitet zu sein („preparedness“); als auch, um künstliche Pandemien zu verhindern („prevention“), was in letzterem Fall (The Guardian, 26. Februar 2023) (ORF, 1. März 2023) bedeutet, einschlägige Forschungen zur „Verschärfung“ von Viren zu identifizieren und einzustellen. Vielleicht lädt Markus Lanz einmal ein, zu diesem Thema – Wissenschaftsethik und Forschungspolitik am Beispiel der „gain-of-function research“ – zu diskutieren.

PS am 14. März: Hier wäre bereits ein geeigneter Diskutant: Jeff Sachs, der vor kurzem vor dem US-Kongress zum Thema ausgesagt hat. Weiters fielen mir ein: Rossana Segreto (Uni Innsbruck), Roland Wiesendanger (Uni Hamburg) und Valentin Bruttel (Uniklinikum Würzburg).