(Geringfügige Aktualisierung am 28. 9. 2021)

Gute Bekannte von mir folgen fast seit Beginn der Krise einem Reflex: Da Ihnen ein Teil der Querdenker*innen und Regierungskritiker*innen so suspekt und unangenehm sind, sind sie kaum mehr offen für die Möglichkeit, dass es auch seriöse, wissenschaftlich fundierte Kritik am offiziellen Narrativ zu Covid-19 geben kann. Einige Influenzer und Diskursframer setzen das offizelle Narrativ mit „wissenschaftlich“ und kritische Sichtweisen mit „unwissenschaftlich“ gleich, oder direkt mit „rechts“ und „verschwörungstheoretisch“ – anstatt nüchtern und sachlich zu differenzieren: Es gibt sowohl unfundierte und unwissenschaftliche als auch fundierte und wissenschaftliche Kritik am Narrativ und den Maßnahmen vieler Regierungen. Es gilt – wie in allen anderen Bereichen auch – genau hinzusehen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Nicht selten treffe ich Befürworter*innen der Regierungslinie, die zugeben, sich selbst keine Meinung bilden zu können und deshalb z. B. Christian Drosten oder Karl Lauterbach „folgen“ oder ORF und Standard. Sie überlassen die Deutungshoheit des Geschehens bewusst anderen.

Als gelernter Kritiker der Mainstream-Wirtschaftswissenschaft muss ich angesichts eines Déjà-vu-Effekts schmunzeln: die „Kampflinie“ verläuft hier exakt gleich: Die Orthodoxie kleidet sich selbst in das Mäntelchen der (objektiven) Wissenschaftlichkeit und versucht Ökonom*innen mit *anderer Meinung* oder Menschen mit einem anderen Wirtschaftsverständnis mit den Etiketten „unwissenschaftlich“ oder gar „pseudowissenschaftlich“ auf Distanz zu halten, anstatt sachlich inhaltliche Argumente auszutauschen.

Nicht minder tobt in der aktuellen Corona-Diskussion ein heftiger Kampf um die Deutungshoheit des Geschehens, mit der Zusatzvolte, dass anstelle einer sachlichen und wertschätzenden Auseinandersetzung die Kritik am offiziellen Narrativ nicht nur pauschal als „unwissenschaftlich“, sondern zusätzlich auch noch als „rechts“ diffamiert wird. Nicht wenige sich als „links“ verstehende Zeitgenoss*innen lassen sich von diesem „Frame“ ins Bockshorn jagen und distanzieren sich undifferenziert und unkritisch von jeder Form der Kritik am offiziellen Narrativ.

Eine meiner Lehren aus der Krise ist, dass die demokratische Gesellschaft deutlich diskursfähiger und -kompetenter werden sollte. Zum Frame der (angeblichen) Wissenschaftlichkeit des offiziellen Narrativs und der (angeblichen) Nichtwissenschaftlichkeit der Kritik daran empfehle ich aktuell den Beitrag der Hamburger Gesundheitswissenschaftler*in Ingrid Mühlhauser: Infosperber, 24. 9. 2021.

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Ein Folgeaspekt der tendenziellen Unterbelichtung oder Ablehnung kritischer Beiträge in den Mainstream-Medien ist das Ausweichen auf neuere Plattformen oder Medien aus, nicht immer mit den besten Referenzen. Ein meiner Einschätzung nach zwar sehr politisches, aber gleichzeitig seriöses neues Medium sind die nachdenkseiten. Dort erschien vor kurzem ein Beitrag über die amtliche Sterbefallstatistik des Mathematikers Günter Eder. Sein Argument lautet (von mir) zusammengefasst:

1. Die Übersterblichkeit in Deutschland war 2020 auf Basis von Daten des Statistischen Bundesamtes nur rund halb so hoch wie die vom RKI ausgegebene Zahl der Covid-19-Verstorbenen (an und mit).

2. Das liegt daran, dass ein Teil (vielleicht die Hälfte) der an und mit Covid-19 Verstorbenen auch ohne positiven PCR-Test oder Erkrankung an Covid-19 im selben Jahr gestorben wäre. Dieser Anteil der Covid-19-Todesfälle nach RKI hat keinen erhöhenden Einfluss auf die Übersterblichkeit. So erklärt sich nach Eder die im Vergleich zu den Todesfallzahlen niedrigere Übersterblichkeit.

3. Bei der Grippe werden die Todesfälle nicht auf Basis von PCR-Tests gezählt, sondern auf Basis der Übersterblichkeit/Gesamttodesfallzahlen. Dadurch entfällt aber bei der Todesfallschätzung durch Grippe der Effekt, dass Menschen, die zwar in einem bestimmten Jahr an oder mit Grippe gestorben sind, jedoch auch ohne Grippe im selben Jahr verstorben wären, in die Grippe-Todesfallschätzung (auf Basis von Übersterblichkeit) eingehen. Folglich könnte die offiziell vom RKI berechnete Zahl der Grippetoten nach Eder um die Hälfte unterschätzt werden – im Vergleich zu Covid-19.

4. Im Ergebnis könnte sich eine durchschnittliche (!) Grippe-Mortalität von 0,1% und Covid-19 von 0,2% ergeben – ein Unterschied, der zwei radikal unterschiedliche Reaktionsmuster (Normalität bei 0,1% (Grippe), Notstand bei 0,2% (Covid-19)) nicht erklären würde.

5. In der starken Grippesaison 2017/18 ist gar kein signifikanter Unterschied zur Corona-Kurve 2020/21 zu erkennen (Abbildung 8). Eders Resümee:

Die relativ geringen Unterschiede in den Übersterblichkeitsverläufen und der gewaltige Unterschied in den Reaktionen, die darauf erfolgt bzw. nicht erfolgt sind, stehen in einem irritierenden, kaum zu fassenden Missverhältnis zueinander. Während die zahlreichen Grippetoten der Jahre 2017 und 2018 den Medien kaum eine Randnotiz wert waren, löste das Coronageschehen eine kollektive Panikreaktion aus, wie sie das Land noch nicht erlebt hat.“

Die Frage ist nun: Wer kann und wird dazu in qualifizierter Weise etwas sagen? Manche lesen sich einen solchen Beitrag erst gar nicht durch, weil sie die „Nachdenkseiten“ für keine „wissenschaftliche Quelle“ halten. Mich würde eine fundierte Stellungnahme z. B. von Karl Lauterbach oder Christian Drosten zu dieser Analyse interessieren, jedenfalls aber eine mediale Auseinandersetzung damit oder auch ein (wissenschaftlicher) „Faktencheck“.

Einen wissenschaftlichen Beitrag zum Thema haben die Autor*innen von „Covid-19 ins Verhältnis setzen“ zitiert. Die Covid-19 Data Analysis Group an der Fakultät für Mathematik, Statistik und Informatik der LMU München schreibt in ihrem CODAG Bericht Nr. 6 Anfang 2021, dass 2020 in Deutschland nur bei der Gruppe der über 80-Jährigen eine nennenswerte Übersterblichkeit zu beobachten war (ein Phänomen, dass auch regelmäßig in starken Grippejahren auftritt); hingegen gab es bei den 35-69-Jährigen sogar eine Untersterblichkeit. In den Vergleichskurven zu den Vorjahren ist bei den LMU-Statistikern das auffälligste Ereignis die starke Übersterblichkeit im Grippejahr 2018, jedoch, anders als bei Covid-19, in allen untersuchten Altersgruppen (CODAG-Bericht 6/2021).

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Zur besonderen Zählweise der Covid-19-Todesfälle gibt es weitere spannende Diskussionen. Die viel diskutierte Zusammenlegung von Menschen, die ursächlich an Covid-19 gestorben sind und jenden, die lediglich mit Covid-19 versorben sind, könnte die im Vergleich zur Übersterblichkeit hohe Todesfallzählung durch das RKI miterklären: Menschen, die ohnehin in einem Jahr verstorben wären oder mit aber nicht an Covid-19 gestorben sind, werden aufgrund eines positiven PCR-Tests als Covid-19-Todesfall gezählt. Dazu hat vor kurzem der IGES-Wissenschaftler Betram Häussler einen mächtigen Aufreger geliefert. Gegenüber der „Welt“ sagte er: „Wir haben ermittelt, dass bei gut 80 Prozent der offiziellen Covid-Toten, die seit Anfang Juli gemeldet wurden, die zugrundeliegende Infektion schon länger als fünf Wochen zurückliegt und man daher eher davon ausgehen muss, dass Corona nicht die wirkliche Todesursache war.“

Die „Welt“ übertitelte den Beitrag mit „Corona bei 80 Prozent der offiziellen Covid-Toten wohl nicht Todesursache“ (30. 8. 2021)“. Von dieser Zuspitzung distanzierte sich der Zitierte nach einem „Faktencheck“ von „Correctiv“, jedoch nicht, weil die 80 Prozent übertrieben gewesen wären, sondern weil sich diese Schätzung lediglich auf den Zeitraum seit Juli des Jahres bezog und nicht auf die gesamte bisherige Dauer der Pandemie – eine Präzisierung, welche die „Welt“ nach dem Correctiv-Beitrag vornahm (Correctiv: Covid-19-Tote: Verkürzte Überschrift der „Welt“ führt zu irreführenden Behauptungen, 16. 9. 2021).

Nun kommt es aber dicke: Just die Recherchen von Correctiv beim RKI ergaben, dass Menschen, die ursächlich an Covi-19 versterben, im Schnitt innerhalb von elf Tagen sterben. Nach 18 Tagen sei dies bei 75% der Fall. Und Häusslers Hauptaussage, die er nicht widerrief, war ja, dass 80 Prozent der Menschen, die vom RKI als Covid-19-Tote gezählt werden, 35 Tage oder noch länger nach dem positiven PCR-Test gestorben seien, also mindestens dem doppelten Zeitraum, innerhalb dessen laut RKI 75% aller Menschen an Covid-19 sterben. Es fragt sich, was an dieser Einschätzung irreführend sein soll? Zwar hat der ZDF ergänzt, dass in vorangegangenen Monaten der Anteil der fünf Wochen oder länger nach dem positiven Test Verstorbenen niedriger und z.B. im April bei nur bei 21 Prozent lag, doch für den zitierten Zeitraum gilt die 80-Prozent-Aussage (ZDF, 2. 9. 2021), und systematische Untersuchungen, die einen Mittelwert für die gesamte Pandemidauer erheben könnten, sind ausständig.

Irritierend ist, dass trotz der einhelligen Ansicht, dass letztlich nur eine Obduktion größtmögliche Klarheit über die Haupttodesursache bringen kann (weshalb Häusslers Einschätzung schon mal als „spekulativ“ bezeichnet wird), das RKI erstens just von Obduktionen abriet. Nicht weniger irritierend ist, dass entgegen der einhelligen Auffassung, dass es zur Klärung einer Todesursache einer Obduktion bedarf (was ja die einzige Kritik an der Plausibilität von Häusslers Einschätzung ist), das RKI ohne Obduktion Covid-19 als Todesursache ausgibt, seit Juli sogar bei 80% der Todesfälle in einer zeitlichen Entfernung vom positiven PCR-Test, welche die Frist, bis zu der nach RKI-Angaben 75% aller Patient*innen an Covid-19 versterben, um mindestens das Doppelte übersteigt. Muss nicht angesichts dieser Faktenlage die Todesfallzählung des RKI als hochspekulativ bezeichnet werden?

Wie ist es angesichts dieser Tatsachen zu bewerten, dass das RKI sogar Patient*innen, die 10 (!) Wochen nach einem positiven PCR-Test versterben, noch als Covid-19-Todesfälle verbucht? Das hat ein anderer Experte, der Medizinstatistiker Gerd Antes, auf ZDF kritisiert. Gegen diese Kritik ist mir kein Faktencheck bekannt.

Was bleibt? Wie seriös sind Faktenchecker, welche die „Welt“ und den Experten Häussler mit den Attributen „irreführend“ und „spekulativ“ umkleiden und gleichzeitig das RKI und dessen Todesfallzählung in keiner vergleichbaren Weise kritisieren?

Warum werden Expert*innen wie Günter Eder, Ingrid Mühlhauser, Bertram Häussler oder Gerd Antes nicht von vielen Medien für alle sichtbar auf ihre Befunde hin befragt?

Am meisten schmerzt mich, dass einige meiner Freund*innen, Verwandten und Bekannten für ihre Argumente oft gar nicht zugänglich sind, weil sie glauben oder fürchten, dass Kritik am offiziellen Narrativ pauschal von rechts kommt oder unwissenschaftlich ist.

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Einen letzten Experten, der Rückgrat zeigt und zu seiner Meinung steht, möchte ich zitieren. Der vor kurzem in den Ruhestand getretene Hamburger Obduzent Klaus Püschel, er sagt gegenüber dem Hamburger Abendblatt das Unaussprechliche: „Wir sollten erklären, die Pandemie ist beendet“ (Abendblatt, 21. 9. 2021). Im Interview (hinter Bezahlschranke) meint er unter anderem zur Wissenschaftlichkeit des Diskurses:

„Um die Krankheit zu verstehen, müssen wir von den Toten lernen (…) Leider hat das Robert-Koch-Institut von Untersuchungen der Toten abgeraten. Deshalb ist in den ersten Monaten das Wissen relativ langsam angewachsen, weil wenig obduziert wurde. Im UKE waren wir die Einzigen, die das von Anfang an gemacht haben. Es gibt auf der ganzen Welt eigentlich keinen anderen Platz, wo die Toten so konsequent untersucht wurden wie hier. Und von Hamburg sind eine Reihe von Erkenntnissen ausgegangen.“

Aber: „Es ist uns nicht gelungen, wissenschaftliche Erkenntnisse so zu verbreiten, dass die Bevölkerung und die Politik gefolgt sind (…) So war immer und immer wieder von Toten die Rede und von der Angst. Es hat in Deutschland nie eine Triage gegeben, aber wir haben die Triage in den Debatten aufgeregt vorweggenommen. Wir haben darüber diskutiert, dass die Intensivstationen überlaufen. Es waren aber stets weniger als 20 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt (… ) Bei den ersten 100 Toten in Hamburg hatten wir ein Durchschnittsalter von 80 Jahren mit jeweils drei bis acht schweren Vorerkrankungen. Die wenigen Toten unter 50 hatten alle neben Adipositas noch schwere Grunderkrankungen (…) Wir haben hier in Hamburg bisher kein gesundes Kind gesehen, das gestorben ist. Null (…) Kinder und Jugendliche sind die großen Verlierer dieser Pandemie. In keiner anderen Altersgruppe weicht das Ausmaß der Einschränkungen so stark vom persönlichen Nutzen ab.“

Weiter: „Ein gesunder Lebensstil ist die beste Prophylaxe, er erhöht die Chance, nicht gefährlich zu erkranken (…) Das ist die Botschaft, die wir viel zu wenig gesendet haben (…) Stattdessen haben Studien zufolge gerade Menschen mit Übergewicht in der Pandemie besonders zugelegt.“ Fazit: „Covid-19 ist kein Killervirus, sondern ein Virus wie viele andere, das primär die Atemwege befällt und danach in seltenen Fällen weitere Krankheiten verursacht. Es ist keine Bedrohung für das Fortbestehen unseres Staates oder der Menschheit. Aus meiner Überzeugung sollten wir heute gemeinsam erklären, dass die Pandemie beendet ist und es jetzt nur noch ein endemisches Geschehen gibt.“

Das schließt an Günter Eder an.

Ich schreibe dies hier und zitiere verschiedene Expert*innen (hier waren es fünf), weil diese und zahlreiche weitere vernünftige und fundierte Wissenschaftler*innen zu wenig gehört werden und Faktenchecker*innen im Regelfall das offizielle Narrativ verteidigen und kritische Stimmen abwehren. Und weil ich die Hoffnung nicht aufgebe, dass sich langfristig die sachlicheren und fundierteren Argumente und Sichtweisen durchsetzen.