Beim Überfliegen der Schlagzeilen auf ORF las ich „15 Festnahmen und Hunderte Anzeigen nach Demo in Myanmar“. Hoppala, nein: da stand nicht Myanmar, sondern, Augen reib: Wien, Österreich, April 2021.

Kurzer Blick zurück in selige Zeiten: Das Lichtermeer 1993 am Heldenplatz, die kreativen und erfolgreichen Demonstrationen gegen das World Economic Forum in Salzburg, die wöchentlichen Donnerstagsdemos gegen die schwarz-blaue Regierung, die reibungslose „Black Lives Matter“-Großdemonstration inmitten der Corona-Krise, …. dazwischen Christoph Schlingensiefs Interventionen oder die gelungene Mikrofon-Übernahme aus Kanzler Kurzs Hand beim Austrian World Summit durch eine Klima-Aktivistin. Und nun: Zustände, die auf den ersten Blick eher an Myanmar denken lassen als an eine liberale Demokratie „westlichen“ Zuschnitts.

Gerade arbeite ich den „Democracy Report 2021“ des V-Dem Instituts am Department für Politikwissenschaft der Universität Göteburg durch. Es ist der umfassendste und datenunterfüttertste globale Zustandsbericht der Demokratie (auf Basis von 30 Millionen gesammelten Daten aus 202 Ländern zwischen 1789 und 2020). Unterteilt werden „closed autocracies“, „electoral autocracies“ (Autokratien mit Wahlen), „electoral democracies“ und „liberal democracies“ (Demokratien mit geschützten individuellen Freiheitsrechten).

2020 brachte bedauerlicher Weise einen neuen Tiefpunkt: Gegenüber 2010 ist der Anteil der Weltbevölkerung, der in Autokratien lebt, von 48% auf 68% angewachsen; gegenläufig ist die Zahl der Staaten, die den Status einer liberalen Demokratie errungen haben, von 41 auf 32 zusammengeschmolzen. Nur noch 14% der Weltbevölkerung leben in dieser freiesten Kategorie von Staaten. Bedrohten 2017 noch 19 Staaten die Meinungsfreiheit, so waren es 2020 deren 32. Das durchschnittliche Demokratie-Niveau, das eine Weltbürger*in heute genießt, ist auf den Stand von 1990 zurückgefallen. Zum Glück liegt es noch deutlich über dem Niveau der 1970er Jahre.

Soviel zum Hintergrund, vor dem 2020 Covid-19-Maßnahmen getroffen wurden. Diese treffen auf einen ins Rutschen gekommenen Hang von Demokratie zu Autokratie – weltweit. Und verstärken ihn auf fatale Weise. Gemäß dem Bericht verletzten im Covid-Jahr 2020 95 Staaten internationale Freiheitsnormen, darunter 32 Demokratien. Am häufigsten kam es zu „Einschränkungen der Medien“, gefolgt von „missbräuchlichen Zwangsmaßnahmen“, „fehlenden Befristungen“ und „offiziellen Desinformationskampagnen“.

Nun verstehe ich mein Bauchweh etwas besser. Es setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Den demokratiebeschädigenden Maßnahmen gegen Covid-19 (nicht Maßnahmen an sich, sondern unverhältnismäßige Maßnahmen) einerseits; und der beklemmenden Tatsache, dass diese nur einen Trend verstärken, der schon zuvor weltweit eingesetzt hatte, andererseits; woran aber nicht Covid-19 schuld war, sondern der Kapitalismus, oder konkreter: die wachsende Vermögens- und Machtkonzentration, die zunehmende Beeinflussung der öffentlichen Diskussion durch Internet-Konzerne, illegitime Datensammlung und zunehmende Überwachungsmöglichkeiten bei gleichzeitig freiem Kapitalverkehr in Steueroasen zu ihren Gunsten.

Umso wichtiger wäre es, in diesen Zeiten die Gesundheit und die Grundfreiheiten, das Immunsystem und die Demokratie gleichzeitig und gleichrangig zu schützen. Statt die öffentliche Diskussion auf ein einziges Thema tunnelartig zu verengen und alles andere auszublenden oder zu kurz kommen zu lassen.

Es wäre wichtig, in Zeiten wie diesen Maßnahmen zur Stärkung der Demokratie zu ergreifen, von der Förderung der Meinungspluralität – zu Covid-19 sollten auch Psycholog*innen, Neurobiolog*innen,Politolog*innen, Grundrechtsexpert*innen und Historiker*innen gleichermaßen gehört werden – über die Sanktionierung von privaten Plattformen, welche die Meinungsfreiheit beschneiden, bis zum Schutz der Demonstrationsfreiheit. Unabhängig davon, wer gerade mit welcher Botschaft auf die Straße geht. Die Grundfreiheiten sind ebenso unteilbar wie die Menschenwürde. Sie gelten für alle.

Es wundert mich nicht, dass der ORF kommentiert, dass „nur“ 3.000 Menschen auf die Straße gegangen seien (nach Polizeizählung), nachdem schon bei vorangegangenen Demonstrationen Menschen festgenommen und Hunderte mit Anzeigen überzogen wurden. Allein gestern wurden 649 Menschen angezeigt – bei so einem Umgang mit Grundrechten bleiben die meisten lieber zu Hause. Und wenn der Innenminister es gerade noch schafft, nach „Rechtsextremen“ und „CoV-Leugnern“ an letzter Stelle „besorgte Bürger“ zu erwähnen, die auch an den insgesamt 22 Demonstrationen teilgenommen hätten, von denen sieben von der Polizei verboten worden waren, dann vergeht sehr vielen der Appetit, sich auf diese Gemengelage einzulassen.

An so einem Tag schäme ich mich für den Umgang in diesem Land mit den Grundfreiheiten – und für den undifferenzierten und diffamierenden öffentlichen Diskurs. Dieser ist gespickt mit Etiketten wie Corona-Leugner, Verschwörungstheoretiker, Aluhutträger oder sogar „Corona-Gegner“. Punzieren statt argumentieren senkt das Debattenniveau und gießt Öl ins Feuer jeden Konflikts. Die Demokratie hat bereits großen Schaden genommen, und im Augenblick sieht es so aus, dass der Democracy Report 2022 noch düsterer ausfallen wird als der aktuelle.