Das Ziel der Regierung hinter den Corona-Maßnahmen wird mitunter als „moving target“ bezeichnet: Erst war es „die Verhinderung der Überlastung des Gesundheitssystems“, dann der „R-Faktor“, dann die Sieben-Tage-Inzidenz, danach diverse Mutanten, und jetzt die regional verfügbaren Intensivbetten in Ostösterreich. Die Betonung liegt auf regional, denn österreichweit beträgt die Auslastung per 3. April laut AGES genau 50,1%. Die Zahl der mit Covid-19-Patient*innen belegten „Normalbetten“ ist auffallend gering: Am 3. April waren es mit 1655 nur halb so viele wie von Mitte November bis Anfang Dezember, aktuelle Auslastung weit unter 50%.

Dass es in Wien offenbar rund 220 Intensivbetten für Covid-19-Patient*innen gibt – und nicht 22 oder 2200 – ist Ergebnis einer „Triage“ (im Sinne von: Priorisierung) bei Steuergeld. Lieber wurde eine Milliarde mehr in Autobahnen investiert (was zu mehr Verletzten und Toten durch Verkehrsunfälle und Luftverschmutzung führt) und weniger in Betten für Intensiv- und seit Anfang 2020 auch Covid-19-Patient*innen. Was wäre, wenn es 500 Betten gäbe? Dann würde aktuell das entscheidende Argument für den Ost-Lockdown fehlen – es gäbe keinen Lockdown! Man fragt sich: Wieso wurde ein geschlagenes Jahr zwischen Anfang 2020 und April 2021 nicht genützt, um Intensivbetten aufzustocken? Käme das nicht um ein Vielfaches billiger als Lockdown & Co.? Wir haben es oft gehört: So etwas dauert, und es ist mit Spezialausbildung verbunden. Aber wurde überhaupt aufgestockt? Ende November 2020 waren österreichweit um bis zu 33% mehr Intensivbetten mit Covid-19-Patient*innen belegt (709) als am 3. April 2021 (533) – man hat den Eindruck, dass die Betten eher weniger als mehr werden.

Und was wäre, wenn in Wien statt 220 nur 42 Intensivbetten vorhanden wären oder 65 – das sind die Äquivalenzzahlen von Portugal und Irland1? Dann hätte die Triage unweigerlich längst begonnen. Desgleichen wenn Covid-19 eine höhere Fatalität hätte, zum Beispiel die der spanischen Grippe. Eine Triage ist schrecklich, aber sie ist immer möglich.

Warum aber ist Triage (Priorisierung) in der Intensivmedizin das größte aller anzunehmenden Übel, größer als alle anderen, sodass es um jeden Preis vermieden werden muss? Priorisiert wird täglich tausend Mal überall – auch mit Konsequenzen für Gesundheit und Leben. An anderer Stelle zuckt aber niemand mit einer Wimper oder Achsel! Wenn zucker- und fettreiche Industrienahrung zugelassen wird, sterben Millionen an Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Diabetes. Wenn Arbeitssicherheitsgesetze schlaff bleiben, kommt es zu Arbeitsunfällen, und Menschen werden verstümmelt oder sterben. Wenn giftige Chemikalien nicht verboten werden, erkranken jedes Jahr Millionen von Menschen. Obwohl Asbestose seit 1900 bekannt ist, forderte 2004, mehr als hundert Jahre später, laut WHO der direkte Kontakt mit Asbest am Arbeitsplatz 107.000 Tote und 1,5 Millionen gesunde Lebensjahre.2

Wie ist es erklärbar, dass laut EEA jedes Jahr 450.000 Menschen (S. 68) in der EU an verschmutzter Luft sterben, obwohl verschmutzte Luft viel leichter zu vermeiden wäre als eine Zoonose wie Covid-19, und dennoch keine Regierung einen Lockdown über die Verschmutzungsquellen verfügt? Warum ist es hingegen ein vergleichsweise inakzeptables Problem, dass vorübergehend nicht für alle Covid-19-Patient*innen Intensivbetten zur Verfügung stehen? So inakzeptabel, dass dafür – anstatt konsequent Betten aufzustocken – Millionen Menschen downgelockt werden mit einer Endlos-Liste von Kollateralschäden (Veröffentlichung kommt in Kürze) bis hin zur aktuellen Triage in der Kinderpsychiatrie in derselben Stadt Wien? Wieso ist diese Triage nicht gleich prominent in den Schlagzeilen? Keine Frage: Triage ist immer schrecklich, aber ist es nicht schrecklicher, dass wir in der EU als Gesellschaft Jahr für Jahr 450.000 Menschen ganz ohne Naturgefahr fahrlässig töten? Durch den bewussten und vermeidbaren Ausstoß von gesundheitsschädlichen Schadstoffen? Ich will das Problem der Belastung der Krankenhäuser und der Triage keineswegs kleinreden, ich wäre sofort für die Investition von Milliarden zur Verbesserung der Situation, und ich würde dafür – im Sinne einer Steuergeldtriage – sofort Milliarden vom Straßenbau in das Gesundheitssystem umlenken! Es geht um die unverändert unbeantworteten Fragen, warum gegen mit Covid-19 vergleichbare Gefahren viel weniger unternommen wird und wieso die fatalen Folgen der Covid-19-Maßnahmen so wenig berücksichtigt werden. Es geht mir einmal mehr um die Relationen und die Verhältnismäßigkeit; und damit um die Glaubwürdigkeit der gesamten Corona-Diskussion.

PS: Dieser Tagebuch-Eintrag, isoliert für sich gelesen, kann vielleicht die Frage aufwerfen, wieso ich so viel Emotion in dieses Thema lenke. Deshalb verweise ich auf das Gesamtbild, das ich von der Corona-Situation bisher gezeichnet habe und auf einen bald erscheinenden Text, in dem ich versuche, die aktuelle Situation in ein „bigger picture“ zu fassen.

1 A. Rhodes et al.: „The variability of critical care bed numbers in Europe“, in: Intensive Care Medicine 38(10):1647-1653, Juli 2012, S. 6.

2 WHO: International Programme on Chemical Safety > Health impacts of chemicals > Asbetos. Online: https://www.who.int/ipcs/assessment/public_health/asbestos/en/, abgerufen am 4. April 2021.