Russland führt jetzt Krieg gegen Moldawien, lese ich auf orf.at zum Wochenende. Habe ich während der Woche etwas verschlafen? In der ORF-Schlagzeile (mit Bild der Größe 2 von 3) steht, es sei ein „hybrider Krieg“. Kein echter Krieg also. Aber halt, ich habe Politikwissenschaft studiert, und ein „hybrider“ Konflikt ist im Regelfall eine Kombination aus physischen und kommunikativen, aus offenen und verdeckten, aus militärischen und nicht-militärischen Operationen. Doch wann begannen und worin bestehen die militärischen Operationen Russlands gegen Moldawien? Davon steht nichts in dem Bericht, auch nicht, warum Russlands Verhalten vom ORF trotzdem als „Krieg“ bezeichnet wird. Bei der Überprüfung aktueller Definitionen von hybrider Kriegsführung wird zwischen „offener und verdeckter“, „symmetrischer und asymmetrischer“, „militärischer und nicht-militärischer“ Kriegsführung gesprochen. Auf Wikipedia sind fünf der sechs exemplarisch aufgezählten „Mittel“ hybrider Kriegsführung militärische Mittel. Kann man also die Dimension militärisch einfach weglassen und trotzdem von „Krieg“ sprechen? In der Titelschlagzeile mit Bild? (Grafik: Iskren Ivanov)

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Wer bewertet Russlands Verhalten im ORF-Bericht als „hybriden Krieg“? Der ORF? Dann wäre es ein Kommentar, der in einem Medienbericht nichts zu suchen hätte. Dort ist über Ereignisse und Tatsachen zu berichten, nicht über Einschätzungen ohne zitierte Quelle. Aus dem Bericht ergibt sich, dass der Begriff „hybride Kriegsführung“ vom moldawischen „Polizeichef“ (ist das seine offizielle Bezeichnung?) gewählt wurde. Es handelt sich also um ein Zitat, nicht um die Meinung des ORF. Dann müsste der ORF aber diese Tatsache auch in der Überschrift so kennzeichnen: „Moldawiens Polizeichef bezeichnet Einflussnahme aus Russland als ‚hybriden Krieg‘.“ So bliebe es ein Bericht des ORF, das Medium würde sich nicht die Ansicht des Polizeichefs zu eigen machen. Hätte der ORF eine Überschrift gewählt, die treffend zum Inhalt des Berichts passt, hätte eine weniger irreführende Überschrift z. B. lauten können: „Kräfte aus Russland versuchen das EU-Referendum in Moldawien zu beeinflussen.“ Das klänge schon ganz anders, ich hätte meinen Samstagsmedienkonsum nicht mit dem körperlich gefühlten Schock beginnen müssen, dass Russland einen neuen Krieg vom Zaun gebrochen hat.

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Im Kern des Berichts geht es, bei vollständiger Lektüre, um das morgige Referendum über die Positionierung des Landes zu einem möglichen EU-Beitritt. Wie würde eine neutrale und ausgewogene Berichterstattung darüber aussehen? Der ORF würde über alle Versuche, das Ergebnis zu beeinflussen, berichten. Er würde idealiter auch seinen eigenen Interessenskonflikt, dass er ein öffentlich-rechtliches Medium eines EU-Mitgliedslandes ist, offenlegen. Und dann über Einflussnahmen von allen Seiten, auch aus der EU berichten. Davon handelt der Bericht jedoch nicht. Er behandelt einseitig die Einflussnahme Russlands. Und framt diese als „Desinformation“ und „Falschinformation“. So etwas mag es ja geben. Aber von der Option, dass es in Russland auch ein legitimes Interesse gibt, dass Moldawien ein neutrales Land bleibt (so wie aus russischer Sicht es vorzuziehen gewesen wäre, dass die Ukraine zu einem neutralen Land wird und weder einen NATO- noch einen EU-Beitritt anstrebt), handelt der Bericht nicht. Er rückt die versuchte Einflussnahme aus Russland ausschließlich in ein Licht illegitimer Einflussnahme „prorussischer Oligarchen“, und bezeichnet diese Aktivität als „Krieg“. Ob die gleichzeitig zweifellos stattfindende Einflussnahme aus dem „Westen“ oder proeuropäischer Philanthropen legitim ist oder nicht, ob sie aus zutreffenden Informationen oder „Desinformationen“ besteht, kann in dem Bericht nicht einmal gefragt werden, weil es in ihm eine versuchte Einflussnahme von anderer Seite gar nicht gibt. Nur „Russland“ versucht, das EU-Referendum mit illegitimen oder sogar illegalen Mitteln zu beeinflussen, erfahre ich als ORF-Leser*in aus dem „Bericht“.

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Und woher kommt darin nun das Werturteil, dass es sich um eine „Flut“ (Wertung des ORF) von „Desinformationen“ und „Falschinformationen“ handelt? Von einer Faktenchecker-Organisation, konkret „WatchDog“. Dass Faktenchecker, bei aller guten Absicht, auch prinzipiell problematisch sein können, habe ich schon öfter diskutiert. Ich sehe aktuell im größeren Bild die Rolle mancher Faktenchecker als eine neue Form der Kommunikationsteilnahme (man könnte auch zugespitzt sagen: am Diskurskrieg), um bestimmte Ansichten durchzusetzen oder nach Gramsci: Deutungshoheit zu erlangen. Das geschieht, indem in einem Konflikt einseitig  missliebige Narrative hinterfragt und bezichtigt werden, mit Weglassungen, Desinformationen oder Falschinformationen zu arbeiten. Da die Qualifizierung „Falschinformation“ nur ein Werturteil ist, was manchen weniger geübten Medienkonsument*innen noch nicht ganz klar ist, ist damit – in vielen Fällen – nicht viel mehr gesagt, als dass die „gecheckte“ Position eine missliebige und die checkende Instanz anderer Meinung ist. In diesem Fall stehen „Russland“ und „prorussische Oligarchen“ für die missliebige Position. Im anderen Fall die „Corona-Verharmloser“. In einem dritten Fall die Kritiker*innen von Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Regierung. Das größte Problem besteht – neben der Grauzone, was „Fakten“ sind – m. E. darin, dass dieselbe Methode nicht auch gegen „die andere Seite“ im Diskurskrieg, an dem sich die Faktenchecker einseitig beteiligen, angewandt werden – im vorliegenden Fall gegen Stimmen, Medien und Akteure aus der EU oder der NATO. Wäre das der Anspruch – eines seriösen Mediums, einer neutralen Instanz –, ließen sich ebenso schnell Aussagen und Einflussnahmen auf anderer Seite finden, die als „Desinformationen“ oder „Falschinformationen“ bezeichnet werden könnten (das kann man immer, es ist ein Werturteil). Damit will nicht gesagt werden, dass es keine Des- oder Falschinformationen von russischer Seite gibt, sondern dass es sie mit hoher Wahrscheinlichkeit von beiden (oder mehreren) Seiten gibt und dass dem Erkenntnisgewinn über einen politischen Sachverhalt wenig geholfen ist, wenn nur die Aussagen einer Seite geprüft werden und die andere Seite gar nicht geprüft wird.

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Der ORF sollte als seriöses Qualitätsmedium deshalb argumentieren, warum er der Organisation WatchDog so viel Raum einräumt – und in einem auffallend langen Lead-Bericht keinerlei Skepsis oder kritische Distanz zur Informationsquelle an den Tag legt. Weder erfährt man, wer WatchDog finanziert noch, ob der „Wachhund“ möglicher Weise nur bei „prorussischen Oligarchen“ anschlägt, aber weder bei proeuropäischen noch bei proamerikanischen Philanthropen. Oder ob WatchDog vielleicht sogar von letzteren finanziert wird. Unter Transparenz findet man auf „WatchDog.md“ interessanter Weise eine leere Seite. Auf der Seite „Projekte“ sind dann – ohne jegliche Zahlen – auch „Main donors and partners“ aufgeführt. Diese reichen von der US-Botschaft in Moldawien über die EU-Kommission bis zur Soros Foundation. Eine neutrale Informationsquelle ist das nicht. Würde der ORF in naher Zukunft einen Beitrag über die Finanzierer von WatchDog oder z. B. „Wer finanziert die Faktenchecker?“ nachliefern, würde das Vertrauen bilden.

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Wenn öffentlich-rechtliche Medien, anstatt diese kritische Distanz zu wahren, in einer hochsensiblen Phase der Beziehungen zwischen der EU, der Ukraine und Russland, in der sie zur Deeskalation und Friedensfindung beitragen sollten – wozu sind sie in einem neutralen Land wie Österreich auch verpflichtet sind –, ihre Berichte oder als Bericht getarnten Kommentare auf einseitigen Informationen von intransparenten Faktencheckern aufbauen und dazu Akteure zitieren, die schwere Waffen im Diskurskrieg einsetzen, wie eben die Bezeichnung „hybrider Krieg“, und zu diesen keine ergänzende, kontrastierende oder widersprechende Stimme zu Wort lassen, dann ist diese Form des Journalismus selbst Desinformation. So ein Journalismus bildet binäres Schwarz-Weiß-Denken, er nährt ein Feindbild, er bereitet uns eher auf den Krieg vor als auf den Frieden.

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Vielleicht würde der ORF zur Rechtfertigung der gewählten Vorgangsweise sagen, dass man in den Medien zuspitzen müsse, damit der Beitrag überhaupt gelesen werde. Dem würde ich widersprechen, weil das die bewusste Übertragung der Wirkungsweise von Algorithmen auf den Sozialen Medien wäre, nämlich Drastisches, Gewaltförmiges und Emitionsschürendes zu verstärken. Das wäre das Gegenteil der oben angesprochenen Mitverantwortung zu Deeskalation, Neutralität und Friedensförderung.

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Die Alternative zur Vorgangsweise des ORF bestünde darin, am Samstagmorgen direkt über das bevorstehende EU-Referendum zu berichten, am besten auch im Titel des Beitrags, Pro- und Kontra-Stimmen im Land zu zitieren, und auch zu berichten, dass es in Russland Kräfte gibt, die ein negativen Ausgang lieber sähen, damit die EU und die NATO nicht noch stärker werden; und in der EU und den USA Stimmen, die einen positiven Ausgang präferieren, weil das mehr ihren Interessen entspricht. Ergänzend illustriert mit je einem konkreten Beispiel von Einflussnahme diverser Seiten, über deren Legitimität sich die Leser*in selbst ein Bild machen darf und nicht bereits eine einseitige Bewertung mitserviert bekommt. Dann müsste mein Wochenende nicht mit der Schocknachricht beginnen, dass „Russland“ jetzt auch einen „hybriden Krieg gegen Moldawien“ führt.

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