Gestern habe ich darüber berichtet, dass die Online-Ausgabe der „Presse“ zum offenen Brief von 600 Ärzt*innen gegen eine Impfpflicht berichtete, die Ärztekammer Österreich wolle „die impfkritischen Statements aber per Faktencheck richtigstellen“.

Ich habe die Formulierung „kritische Statements richtigstellen“ als Satz für die Geschichtsbücher bezeichnet.

In „normalen Zeiten“ hätte die Ärztekammer verschiedene alternative Umgangsmöglichkeiten, sie könnte:

  • zu Fakten, die sie anders interpretiert oder zu Argumenten, die sie nicht teilt, ihre andere Sicht darlegen;
  • mit den 600 Ärzt*innen das öffentliche Gespräch suchen, damit sich die Bevölkerung selbst ein Bild zu den unterschiedlichen Sichtweisen machen kann;
  • Aussagen, die ihrer Ansicht nach wissenschaftlich eindeutig falsifiziert sind (in einer dynamischen Entwicklung, in der nahezu täglich neue Erkenntnisse dazukommen äußert rar), aus Ihrer Sicht richtigstellen;

Nun habe ich gesehen, dass im ORF.at-Beitrag die Formulierung noch getoppt wurde:

„Die Ärztekammer will die Statements mit einem Faktencheck richtigstellen.“

„Die Statements“ der 600 Ärzt*innen sind ein minutiös verfasster 7-seitiger Text mit 95 weitgehend wissenschaftlichen Quellenangaben. DAS will die Ärztekammer ALLES richtigstellen?

In dieser Formulierung liegt ein hohes Maß von sprachlicher Gewalt und eine völlig neue Kommunikations(un)kultur. Sie impliziert, dass das gesamte Papier mitsamt der Quellen „falsch“ seien. (Man beobachte die inflationäre Verwendung des Begriffs „Falschinformation“ statt „andere Ansicht/Einschätzung/Meinung“). Sie impliziert, dass die Ärztekammer in allen Punkten Inhaberin der Wahrheit ist und die Verfasser*innen des Briefes in allen Punkten – mitsamt 95 Quellen – irren. Sie verhindert ein Ins-Gespräch-Gehen im gegenseitigen Respekt und auf Augenhöhe.

Warum ist es denn schlimm, dass es zu aktuellen Entwicklungen unterschiedliche Einschätzungen gibt? Warum kann das nicht gründlich und öffentlich diskutiert werden?

In welche Gesellschaft bewegen wir uns gerade?

Warum wird dieser Brief nicht zum Anlass genommen, was in einer lebendigen, pluralen und deliberativen Demokratie selbstverständlicher Standard sein müsste: Dass die Verfasser*innen eines so breit unterstützten Briefes (600 Ärzt*innen!)

a) zum informellen Gespräch mit der Kammer eingeladen werden, um mögliche Auffassungsunterschied versuchsweise gütlich zu besprechen;

b) in ganz Österreich runde Tische organisiert werden, an denen Kritiker*innen der Impfpflicht, darunter die Verfasser*innen dieses Briefes, mit Expert*innen anderer Meinung, öffentlich Argumente austauschen – so wie das bei Zwentendorf der Fall war. Auch damals gab es eine wissenschaftliche Mehrheitsmeinung (pro Atomkraft), aber keinen Konsens, sondern eine heftige Kontroverse. Damals war die Demokratie noch so intakt, dass diese Kontroverse öffentlich ausgetragen wurde und die Bevölkerung sich so ein vollständiges Bild über das bestehende Meinungsspektrum zur Atomkraft machen konnte.

d) Die Medien, anstatt selbst „Faktenchecker“ zu spielen, die Verfasser*innen ausführlich zu Wort kommen lassen, oder zu Streitgesprächen mit Wissenschaftler*innen anderer Meinung organisieren, auf dass sich auch auf diesem Weg mündige Staatsbürger*innen eine eigenständige Meinung bilden können.

So sehr die Meinungen zur Frage einer Impfpflicht auseinandergehen, so sehr sehe ich – ausnahmsweise – einen Konsens unter den Expert*innen, dass der jetzige Zeitpunkt ungünstig ist – für Omikron kommt sie zu spät -, weshalb die Zeit jetzt für genau diese gesellschafts-, gesundheits- und demokratiepolitisch so wichtige Diskussion genützt werden könnte.

Ich plädiere für eine breite öffentliche Diskussion dieses Briefes im gegenseitigen Respekt.